Ich erfuhr 2021, dass ich vor über 60 Jahren ein Lamm gerettet hatte.

Als wir die Felswand erreichten, sahen wir ein Lamm einige Meter unterhalb des Gipfels. Ohne Hilfe konnte es nicht mehr an der Wand zur restlichen Schafherde hochklettern.

Ich erfuhr 2021, dass ich vor über 60 Jahren ein Lamm gerettet hatte.
Da ich in Oberösterreich einen sehr guten Freund habe, der sein Leben im Rollstuhl verbringt, fahre ich regelmäßig zu ihm, um ihn zu besuchen. Beim letzten Besuch blieb ich auf der Heimfahrt bei einem Bauernhof stehen, wo gerade der Dachstuhl repariert wurde. Ein älterer Mann kam auf mich zu und meinte, er kenne mich. Mir war der Mann gänzlich unbekannt und als ich gerade antworten wollte, sprach er meinen Namen aus. Ich war überrascht, weil ich ihn nicht kannte.

Dann erzählte er mir, wie wir uns vor 60 Jahren kennengelernt hatten. Zu diesem Zeitpunkt war ich Knecht auf dem Bauernhof der Familie Brandner, Gemeinde Gaflenz in den Voralpen. Eines Tages hörte die Bäuerin des Nachbarbauernhofes, Familie Schweighuber, ein Lamm um Hilfe blöken. Die hilflosen Rufe kamen von der anderen Seite des Berges, vom Bauernhof wo ich arbeitete. Die Schweighuber-Bäuerin schickte ihren jungen Sohn zur Brandner-Bäuerin und meldete den Vorfall. Ich bekam den Auftrag, der Sache nachzugehen. Da ich wusste, dass die Rufe vom Felsabgrund kamen, nahm ich mir ein langes Seil mit und der junge Sohn ging mit mir mit.

Lamm @danielsandvik

Als wir die Felswand erreichten, sahen wir ein Lamm einige Meter unterhalb des Gipfels. Ohne Hilfe konnte es nicht mehr an der Wand zur restlichen Schafherde hochklettern. Ich befestigte das Seil an einem Baum, schlang es um meinen Körper und begann den steilen Abstieg. Als ich das Lamm erreicht hatte, nahm ich es vorsichtig an mich und befestigte es mit dem Seil. Bepackt mit dem Lamm war der Aufstieg um einiges beschwerlicher, aber nach einiger Zeit war Lamm wieder zurück bei seiner Herde.

Für mich war dieses Erlebnis nichts Besonderes, da mir der körperlich anstrengende Alltag eines Knechtes über die Jahre zur Gewohnheit geworden war. Aber für den jungen Buben war es ein kleines Wunder, dass sich über die Jahre tief in seinen Erinnerungen und seinem Herzen verankert hatte, bis wir uns 60 Jahre später wieder sahen. Es war ein freudiger Moment, als ich seine Erinnerungen über unser Erlebnis erfuhr. Er erzählte mir, dass er eines Tages beschloss, ein Kreuz genau an der Stelle aufzustellen, wo das Lammes gerettet worden war, damit andere gläubige Menschen von diesem Erlebnis erfuhren und es als Wunder Gottes wahrnehmen konnten. Leider hatte er damals vergessen, den Grundbesitzer um Erlaubnis zu fragen und so musste er zu seiner tiefen Enttäuschung das Kreuz wieder abmontieren.

Ich bin sehr dankbar, dass ich von dieser Geschichte erfahren durfte. Es erinnerte mich daran, als Jesus dem verlorenen Schaf nachging, um es zurück in die Herde zu bringen und ich fragte mich, ob damals auch ein Kind mitgegangen war und sich dieses Erlebnis in sein Herz eingebrannt hatte hat.